Zwei richtig erholsame Ruhetage in Rjukan liegen hinter uns. Wir konnten ausschlafen, haben dank des Supermarktes jeden Tag ausgiebig gefrühstückt, gingen nachmittags in ein Café, entspannten in der Sonne am Flussufer, lauschten der Live-Musik von Onklsam‘s Byfestival und nutzten das WLAN, um uns abends den Rock am Ring - Livestream anzusehen.
Aber nach diesen zwei Tagen kribbelte es uns schon wieder in den Beinen und wir wollten weiter. Die Hardangervidda, eines der Gebiete in Norwegen, auf das wir uns am meisten freuten, lag direkt vor uns und wartete darauf, von uns durchwandert zu werden. Und es hat unsere vorfreudigen Erwartungen mehr als erfüllt!
Als wir in Rjukan aufbrachen, waren die Schmerzen zwar nicht, wie erhofft, vollständig verschwunden, aber nur noch sehr leicht. Trotzdem wollten wir versuchen, heute weiter zu gehen. Da die Schmerzen von den vielen Asphaltkilometern nach Rjukan kamen, dachten wir, sie würden im
Gelände sicher weiter nachlassen. Unsere Rucksäcke haben durch den ganzen Essensvorrat wieder ziemlich an Gewicht zugelegt. Vielleicht haben wir es auch etwas zu gut gemeint beim Einkauf, nachdem wir letztes Mal etwas zu knapp eingekauft haben.
Schon nach den ersten Metern nahmen die Schmerzen wieder zu. Ich war ziemlich deprimiert. Jetzt standen wir wieder da und überlegten, ob es überhaupt sinnvoll ist, so in die Hardangervidda aufzusteigen. Aber eine wirkliche Alternative hatten wir auch nicht und noch eine Nacht im Hotel gab unser Budget sowieso nicht her. Das Wetter war perfekt und es wären heute nicht so viele Kilometer, so dass wir uns Zeit lassen und viele Pausen machen könnten. Wir entschieden uns, es zu versuchen.
Wir hatten uns schon die letzten Tage auf eine leckere norwegische Waffel mit Rømme und Marmelade gefreut, weil wir gelesen hatten, dass es an der Bergstation welche geben würde. Der Gedanke daran verleihte uns zusätzliche Motivation. Leider mussten wir dann oben feststellen, dass heute geschlossen war. Die norwegischen Waffeln gehörten zu den Dingen, auf die wir uns schon bei der Planung unserer Tour riesig freuten. Aber dann wird das wohl heute nichts. Dafür war der Blick zurück ins Tag von hier oben fantastisch: Rjukan ganz tief unten in diesem grünen Tal. Oben über allem thront mächtig der Gipfel des Gaustatoppen. Ein sehr beeindruckendes Bild.
Es ging noch ein Stück weiter auf Kiesweg, ehe wir dann auf den Wanderweg abbogen. Bald schon ließen wir die Bäume hinter uns und waren in einer kargen Hochebene gelandet - der größten Hochebene Europas! Die Landschaft war überzogen von Flechten und bespickt mit vielen verschieden großen Steinbrocken und Felsen. Berge mit vielen Altschneefeldern waren überall um uns herum und immer wieder passierten wir leuchtend blaue Seen und sprudelnde Bäche. Es war einfach traumhaft! Die Hardangervidda ist genauso schön, wie wir sie uns vorgestellt hatten.
Die Wanderfreude wurde nur getrübt von einem stechenden Schmerz in meiner Achillessehne bei jedem Schritt. Ich versuchte, ihn so gut es ging zu ignorieren. Ich wollte den Tag bei diesem super Wetter und in dieser faszinierenden Landschaft einfach genießen. Jeden passenden Fluss nutzte ich, um den Fuß ein paar Minuten zu kühlen. Kurz hinter dem Abzweig zur Helbgerghytta machten wir dann eine lange Pause und kochten uns Mittagessen. Danach legten wir uns auf die flachen Felsen in die Sonne und genossen einfach nur den Moment. Und weil es gerade so schön war und der Gaskocher eh noch aufgebaut war, gab’s noch einen Kaffee danach.
Als wir dann weiter liefen, begegnete uns noch ein Phänomen, mit dem wir eigentlich erst etwas später gerechnet hätten: Kaum war es auch nur kurz windstill, waren wir umringt von tausenden Mücken. Da war schnell klar, dass wir einen Zeltplatz brauchen, der nicht windgeschützt ist. Zwei Kilometer später fanden wir auch schon einen. Er lag etwas erhöht auf einer freien Fläche. Etwas unter uns war ein kleiner See und wir hatten einen perfekten Blick auf den Gaustatoppen. Angeblich soll er der schönste Berg Norwegens sein.
Nachdem das Zelt aufgebaut war, wollten wir ein bisschen den Umgang mit Karte und Kompass üben. Hier waren die Wege zwar gut markiert, aber weiter im Norden würden wir das noch brauchen. Schon als wir das Zelt aufbauten, waren uns die vielen Hummeln hier aufgefallen. Als wir dann im Zelt lagen, brummten sie draußen immer noch fröhlich vor sich hin. Und anscheinend schlafen Hummeln nicht. Die ganze Nacht hörte es sich an, als würde ein Generator vor dem Zelt stehen.
Als wir am nächsten Morgen aus dem Zelt krochen, war der Himmel wieder wolkenlos und die Sonne strahlte uns entgegen. Sah nach einem weiteren perfekten Wandertag aus.
Flo baute das Zelt ab und ich führte meine inzwischen tägliche Morgenroutine durch: kühlendes Fußbad, Dehnübungen, Voltarensalbe. Dann waren wir startklar. Das Laufen ging besser als gedacht und ich war guter Dinge, dass sich meine Fußprobleme die nächsten Tage bessern würden. Wenn gerade kein Fluss da war, nutzte ich den Schnee zum kühlen. Da passte es ganz gut, dass wir heute einige Schneefelder queren mussten. Durch die warmen Tage zuvor waren sie schon ziemlich weich und instabil. Wir testeten jedes Schneefeld auf den ersten Schritten. War es uns zu unsicher, suchten wir einen Weg außenrum. Trotzdem passierte es immer wieder, dass wir bis zum Knie einbrachen.
Hinter einer Bergkuppe tat sich dann völlig unerwartet ein gigantisches Panorama auf. Im Tal lag eine zerklüftete, leuchtend blaue Seenlandschaft und dahinter ragten die schneebedeckten Berge auf!
Nachdem wir genug fotografiert und gefilmt hatten, ging’s weiter. Auch einige sumpfige Passagen waren aufgrund der vorangegangenen Schneeschmelze wieder dabei.
Größtenteils liefen wir aber auf recht guten Wegen. Zwischendurch fand wohl auch das Schmelzwasser unseren Wanderweg ganz praktisch, um schneller von A nach B zu kommen. Aber es machte uns super viel Spaß, hier zu wandern. Die Landschaft in den norwegischen Fjellgebieten ist einfach so anders, als alles was wir sonst kannten.
Allerdings schien es nicht nur uns hier zu gefallen. Heute waren unsere Wanderbegleiter riesige Horden von Kriebelmücken. Irgendwann gaben wir das Wedeln auf und holten unsere Kopfnetze raus.
An einem wunderschönen See mit kleinem Sandstrand machten wir nochmal eine Pause.
Ab der Hälfte der Strecke waren meine Schmerzen leider wieder schlimmer. Da ich den Fuß dadurch nicht richtig abrollen konnte und mein rechter Fuß das immer ausgleichen musste, fing auch der bald an, zu ziehen. Meine Gedanken kreisten bald nur noch um meine Füße. Wie weit würde ich so noch gehen können. Der Optimismus vom Morgen war schnell verschwunden. Irgendwann kam dann endlich die Kalhovd-Hütte in Sicht. Es war eine große, normalerweise bewirtete DNT-Hütte, die allerdings momentan noch geschlossen hatte. Es gab aber eine kleine Nebenhütte, die man mit dem DNT-Schlüssel aufsperren konnte.
Da wir aber sowieso im Zelt schlafen wollten und das Wetter auch gut war, suchten wir erstmal einen Platz, wo wir es aufstellen konnten. Genau genommen war unser Platz wahrscheinlich zu nah an der Hütte. Aber da sie ja noch geschlossen hatte, würde es hoffentlich niemanden stören. Bis zum Wasser runter war es ziemlich weit. Damit wäre er als Platz für einen Pausentag eigentlich schon raus. Aber eine Pause brauchte mein Fuß auf jeden Fall und ein Arzt wäre wahrscheinlich auch nicht schlecht. Es würde in Rjukan und in Geilo einen geben. Wir überlegten, was unsere Optionen sind. Meine Mama half uns von zu Hause aus mit dem Suchen geeigneter Busverbindungen. Wir könnten in zwei Tagen auf dem Radweg zurück zur Bergstation und von dort mit der Gondel zurück ins Tal nach Rjukan. Allerdings kamen wir von dort nur sehr schwer wieder weg. Um z.B. nach Geilo zu kommen, müssten wir erst bis nach Oslo fahren und wären von dort nochmal mehrere Stunden mit verschiedenen Bussen und Bahnen unterwegs. Besser wäre es, irgendwie nach Geilo zu kommen. Von der nächsten Hütte (Mårbu) könnten wir aussteigen und dann noch 20 km auf der Straße nach Bjørkeflåta laufen. Von dort würde dann ein Bus nach Geilo fahren. Oder wir würden es in der Hardangervidda bis zur Tuva Hütte schaffen. Das wären ab Mårbu noch zwei Tagesetappen. Von dort ginge dann ebenfalls ein Bus nach Geilo. Wir entschieden uns, erst mal bis zur Mårbu zu laufen und dort einen Ruhetag einzulegen. Hubertus hatte uns eine Nachricht geschickt, dass dort ebenfalls eine kleine Hütte mit dem DNT-Schlüssel aufschließbar ist. Da es dann sowieso den ganzen Tag regnen sollte, passte das ganz gut. Nach dem Pausentag wollten wir dann weiter sehen.
Am nächsten Morgen waren die Schmerzen schon wieder leichter. Das stimmte uns optimistisch. Hinter der Hütte wartete bereits der erste Anstieg auf uns. Ich kühlte meinen Fuß wieder regelmäßig in Flüssen und Schneefeldern. Von letzteren gab es heute wieder reichlich. Das hatte zur Folge, dass wir ziemlich langsam voran kamen.
Aber auch heute war die Landschaft wieder unbeschreiblich schön. Wohin wir sahen: Vor, hinter und neben uns ewig weit Fjell!
Und diese Stille und Einsamkeit hier waren echt beeindruckend. Seit der Helberghytta sind wir niemandem mehr begegnet. Das einzige, das die Stille hin und wieder durchbrach, waren Vogelgeräusche - allen voran die vielen Kuckucksrufe. Schon seltsam irgendwie. Wir konnten uns an keinen Tag erinnern, an dem wir mal keinen Kuckuck gehört hatten. Außer vielleicht an dem Abend, an dem ihn die Hummeln übertönt hatten. Als wir nach 8 Kilometern dann eine längere Pause machten, waren die Fußschmerzen schon wieder deutlich stärker. Ich schnitt ein Stück aus meiner Schaumstoff-Sitzunterlage und hoffte, es würde die schmerzende Ferse etwas dämpfen. Mir kamen langsam Zweifel an unserem Plan. Die Aussicht auf einen großen See vor den hohen Bergketten, ließ mich diese Zweifel aber schnell wieder vergessen. In der Mitte der Strecke kam dann nach einer Flussüberquerung ein langer Anstieg, gefolgt von einem noch längeren Abstieg. Der Blick auf das unter uns liegende Tal war wieder gigantisch. Wir machten nochmal eine kurze Pause bei dieser tollen Aussicht.
Die Regenfront, die uns seit den ersten Metern heute im Nacken saß, hatte uns glücklicherweise bis jetzt noch verschont. Im Tal wurde der Weg dann wieder sumpfiger. Die Landschaft änderte sich ein bisschen. Helle Gelbtöne mischten sich jetzt unter die Flechten.
Schon von weitem konnten wir dann endlich die Hütte erkennen. Ich hatte auf den letzten Kilometern ziemlich zu kämpfen mit meinen Füßen. Ganz langsam kam sie näher und als wir endlich vor der Tür mit dem DNT-Schloss standen, war ich so erleichtert wie selten zuvor.
Auch Flo hatte heute ziemlich unter dem Rucksackgewicht gelitten. Um mir Gewicht abzunehmen, hatte er die schweren Gegenstände wie Zelt und Essensäcke die letzten Tage alleine getragen. Wir machten es uns schnell in der Hütte gemütlich. Plötzlich wurde es immer dunkler im Aufenthaltsraum. Die Regenfront hatte uns nun doch eingeholt. Wie eine schwere dunkle Wand schob sie sich über den blauen Himmel, bis nur noch ein heller Streifen am Horizont blieb. Ziemlich beeindruckend, dieses Naturschauspiel.
Wir waren heilfroh, dass wir in der warmen Hütte saßen. Da es schon fast 20.00 Uhr war, hatten wir ziemlich Hunger. Die Vorratskammer gab nicht sonderlich viel her, sie war schon ziemlich ausgeräumt. Die Wahl fiel auf Maccheroni und eine Dose Joika Fleischbällchen mit Soße.
Als wir später versuchten, die Inhaltsstoffe zu übersetzen, stellten wir fest, dass wir gerade Rentier, Schaf und Rinderherz gegessen hatten. Das Übersetzen hätten wir mal lieber gelassen. Danach zählten wir noch unsere Essensrationen, um abschätzen zu können, wie lange wir uns notfalls für die nächsten Kilometer Zeit lassen konnten. Wir hatten von allem noch sechs Portionen. Damit hatten wir etwas Puffer. Auftreten ging bei mir gerade gar nicht mehr. Als ich meine Socken auszog, fiel auf, dass die linke Ferse nun geschwollen, gerötet und deutlich wärmer als die rechte Ferse war. Klassische Entzündungszeichen. Mist. Die 20 Kilometer heute waren dann wohl doch zu viel. Also gab’s für mich erst mal wieder ein Eisbad. Gut, dass draußen noch ein bisschen Schnee lag. Auf jeden Fall war klar, dass ich eine längere Pause brauchen würde. Die Situation war ziemlich deprimierend. Flo meinte, ich solle nicht gleich vom schlimmsten ausgehen. Er hatte Recht. Aber glücklich war er auch nicht. Jetzt mussten wir einfach abwarten, was der Pausentag brachte und danach weiter überlegen.
Der nächste Morgen war verregnet und grau und passte irgendwie zu unserer Stimmung. Wie gerne würden wir jetzt trotzdem einfach weiter laufen und nicht schon wieder einen Tag aussetzen. So gemütlich es in der Hütte auch war, wir wollten lieber die Hardangervidda weiter erkunden. Aber es half ja nicht. Wir machten erst mal Frühstück.
Später wollte Flo ein bisschen die Umgebung erkunden. In einem Kilometer Entfernung gab es einen größeren Fluss, den wir queren müssten. Den wollte er sich ansehen. Hubertus meinte, er würde bei viel Regen oder Schmelzwasser ziemlich reißend und gefährlich sein. Ich laß derweil ein paar fjell og vidde Zeitschriften des norwegischen Wandervereins. Die waren zwar alle auf norwegisch, aber inzwischen konnten wir uns die Zusammenhänge schon recht gut herleiten. Geschrieben war norwegisch viel leichter zu verstehen als gesprochen. Nebenbei snackte ich ein paar Rosinen aus der Vorratskammer und war dabei immer noch erstaunt über mich selbst. Aus jedem Hefezopf popelte ich normalerweise solange alle Rosinen raus bis meistens nur noch Brösel übrig waren. Und hier konnte ich ganze Packungen davon essen.
Als Flo zurück kam, konnte er Entwarnung geben für den Fluss. Er habe gerade nicht so viel Wasser, dass es gefährlich wäre. Aber ich konnte immer noch nicht richtig auftreten. Aus Budgetgründen wollten wir die kommende Nacht wieder im Zelt verbringen. Nach dem Zeltaufbau besprachen wir, wie wir morgen weiter gehen wollten. Wir waren beide dafür, bis zur Tuva zu gehen. So ginge unsere geplante Route auch weiter und wir wollten unbedingt noch mehr sehen von diesem tollen Wandergebiet. Außerdem würden wir auf dieser Strecke auch unsere ersten 500 Kilometer voll machen. Aber wenn wir beide ehrlich waren, wäre diese Entscheidung hauptsächlich durch unseren Ehrgeiz beeinflusst. Und eigentlich war es längst klar, was jetzt das Richtige war. Alles in uns sträubte sich dagegen, jetzt aufzugeben und abzusteigen. Aber das, was jetzt zählte, war, dass der Fuß so gut heilt, dass ich überhaupt weiter laufen kann. Und dafür werde ich eine längere Pause brauchen. Wenn wir bis zur Tuva wandern würden, würden wir diese nur hinauszögern. Die Entscheidung fiel uns unglaublich schwer. Aber es war beschlossen. Wir würden morgen absteigen, um dann auf dem schnellsten Weg nach Geilo zu gelangen. Bis zur Straße waren es laut unserer Karte etwa 20 Kilometer. Um halb 10 Uhr abends schaute Flo nochmal schnell raus um frischen Schnee zum kühlen zu holen. Aufgeregt kam er wieder zurück und meinte, ich müsse mit raus schauen. Direkt über uns war ein riesiger Regenbogen. Es war wunderschön! Es nieselte noch leicht. Hinter uns blitzte die untergehende Sonne grell unter den Wolken hervor und zauberte einen komplett sichtbaren bunten Regenbogen direkt über die Mårbu. Der Himmel dahinter war noch tiefschwarz von den dunklen Regenwolken. Die Natur ist schon wirklich einzigartig! Wir deuteten das mal als gutes Zeichen :)
Als wir am Morgen aufbrachen, waren die Schmerzen kaum besser, als am Tag vorher. Wir gingen zurück bis zum Wegweiser und folgten dann den Schildern zur Solheimstulen.
Ich versuchte, mit den Wanderstöcken so viel Gewicht wie möglich von meinen Füßen zunehmen. Landschaftlich war die Strecke heute anders als die letzten 3 Tage. Wir entfernten uns langsam von den hohen Bergen. Dafür wurden die hellgelben Flechten immer mehr und dominierten bald das Landschaftsbild. Alles war ziemlich karg. Und das graue Wetter heute verstärkte diesen Eindruck noch. Es gefiel uns aber irgendwie. Das hatte etwas mystisches.
Da wir wussten, dass wir die nächsten Tage auf einem Campingplatz festsitzen würden, versuchten wir, so viele Fjelleindrücke wie möglich in unseren Erinnerungen zu speichern. Nach 10 Kilometern machten wir dann Mittagspause. Ein Stück unter uns schlängelte sich ein Fluss durchs Tal. Da ahnten wir aber noch nicht, dass dieser uns gleich ziemlich herausfordern würde. Am Ufer stand ein Schild, an dem zwei lange Holzstangen lehnten und auf dem stand, diese wären zum Flussqueren.
Der Fluss teilte sich in mehrere Arme auf. Der erste war etwas kniffelig zu queren, aber wir schafften es mit ein bisschen Hüpfen und Gleichgewicht ans andere Ufer. Wir liefen ein paar Meter über eine Mittelinsel und suchten dann nach einem Weg, wie wir über den zweiten Arm kommen. Aber wir konnten keinen finden. Wir liefen ein Stück flussabwärts. Und dann wieder flussaufwärts. Und nochmal flussabwärts. Sah alles nicht gerade toll aus. Aber irgendwo mussten wir es versuchen. Flo ging vor und kehrte nach ein paar Metern kopfschüttelnd wieder um. Der Fluss war stellenweise so tief, dass unser ganzer Wanderstock darin verschwand. Hinzu kamen einige Stromschnellen in der Mitte. So lief das dann noch zwei Mal an anderen Stellen. Dann war es wohl jetzt so weit: Unsere erste richtige Furt. Wir zogen Schuhe, Socken und Hosen aus und holten unsere Neoprensocken aus den Tiefen unseres Rucksacks. Da der Fluss ca. 15 Meter breit und voll mit eiskaltem Schmelzwasser war, waren wir froh, dass wir sie doch eingepackt hatten. So versuchten wir auf den unter Wasser liegenden Steinen ans andere Ufer zu balancieren. Es klappte erstaunlich gut und kurze Zeit später waren wir wieder im Trockenen. Darauf gab’s dann erst mal ein Kvikk Lunsj. Das ist DER norwegische Wandersnack. Auf der Innenseite der Verpackung stehen sogar die Fjellregeln.
Danach ging es parallel zum Fluss bergauf und wir hatten einen tollen Blick zurück aufs Tal.
Irgendwann bog der Weg dann nach links ab und wir landeten in einer Hochebene, in der sich das viele Schmelzwasser sammelte und sie in einen großen Sumpf verwandelte. Das kannten wir ja schon. Trotzdem war das Vorankommen ziemlich mühsam. Unter vielen Schneefeldern flossen bereits kleine Schmelzwasserbäche hindurch, die uns verrieten, dass sie wohl nicht mehr gut tragen. So mussten wir uns oft einen Weg außenrum suchen. Bald gaben mir meine Füße zu verstehen, dass es für heute reicht und wir machten uns auf die Suche nach einem Zeltplatz. Da wir noch Wasser brauchten, wollten wir noch den nächsten Fluss abwarten. Direkt auf der anderen Seite fanden wir dann einen tollen Campspot.
Nach dem Abendessen und einem kalten Fußbad im Fluss schlüpften wir in unsere Schlafsäcke. Auf die Voltarensalbe verzichtete ich heute. Ich hatte irgendwie einen Ausschlag davon bekommen.
5 Kilometer fehlten uns am nächsten Tag noch bis zur Solheimstulen. Die Hütte liegt am Ende einer Schotterstraße. Wir hofften, dass wir von dort schon irgendwie zur Hauptstraße kommen würden. Zum Frühstück gab’s heute nur schnell Knäckebrot - oder zumindest die Brösel, die davon nach einer Woche im Rucksack noch übrig waren. Wir packten zusammen und liefen etwas wehmütig los. Wir wollten das Fjell nicht verlassen. Nach einer Stunde kam die Hütte schon in Sicht. Das letzte Stück verlief dann durch einen kleinen Birkenwald.
Wir wussten, dass die Solheimstulen gerade renoviert wurde und tatsächlich standen ein paar Autos davor. Wir hofften, dass uns einer der Arbeiter nach Feierabend vielleicht mit raus nehmen könnte. Wie sich dann aber herausstellte, blieben sie alle hier übernacht. Die Hüttenbesitzerin meinte, ein Taxi würde alleine 120€ Anfahrt kosten und insgesamt wären wir wohl bei über 200€ für die Fahrt. Bis zur Hauptstraße wären es noch 15 Kilometer. Aber ich konnte keinen Schritt mehr laufen. Ich war schon überfroh, dass ich es hierher geschafft hatte. Sie meinte, wir könnten die Rechnung ja eventuell bei unserer Krankenversicherung einreichen. Wenn wir uns für das Taxi entscheiden, wollte sie für uns anrufen und den Weg erklären. Da wir nicht gerade viele Optionen zum auswählen hatten, ging Flo vor und wollte Bescheid geben, dass wir das Taxi nehmen. Freudestrahlend kam er zurück und erklärte mir, dass sie noch einen Freund angerufen hatten, der im nächsten Ort wohnt und er würde uns abholen. Ich konnte es nicht glauben, was wir für ein Glück hatten. Eine Dreiviertelstunde später saßen wir in einem alten, klapprigen Jeep voller weißer Hundehaare. Ein ebenso weißhaariger, bärtiger älterer Mann saß vor uns. Er war ziemlich schweigsam oder konnte vielleicht auch einfach kein Englisch. Wir bedankten uns mehrmals und gaben ihm noch ein Trinkgeld, als er uns schließlich an der Bushaltestelle aussteigen ließ. Die Bushaltestelle lag mitten an der Hauptstraße. Außer einem kleinen Bushäuschen gegenüber gab es hier nichts. Wir setzten uns auf den Boden und nutzten es aus, dass wir endlich wieder Internet hatten. Wir mussten die Öffnungszeiten vom Medical Center und der Apotheke in Geilo googeln und suchten noch nach Infos zum Campingplatz und zum Ort selbst. Der Arzt hätte schon geschlossen, wenn wir in Geilo ankommen würden. Da heute Freitag war, mussten wir also bis Montag mit dem Arztbesuch warten. Der Bus würde erst in knapp drei Stunden kommen. Also kochten wir uns erst mal Mittagessen. Um halb 6 Uhr abends kamen wir dann in Geilo an. Beim Aussteigen fragten wir den Busfahrer, ob er wisse, ob heute noch ein Bus in Richtung Campingplatz fahren würde. Er sprach kurz mit dem Busfahrer eines anderen Busses, der uns dann zuwinkte und sagte, wir sollen einsteigen. Als wir bezahlen wollte, winkte er ab. Wir fanden heraus, dass die Haltestelle noch ein paar hundert Meter vom Campingplatz entfernt war. Wir drückten rechtzeitig die Stop-Taste, doch der Bus hielt nicht an. Wir fragten uns schon, ob wir nicht fest genug gedrückt hatten, als der Bus etwas später anhielt und die Türen aufgingen. Wir standen direkt vor dem Campingplatzeingang! Wir winkten dem Busfahrer dankend zu und ich war heilfroh, mir wieder ein paar Meter gespart zu haben. Wir checkten schnell ein und bauten unser Zelt auf. Ich antwortete Hubertus noch schnell auf seine Nachrichten, erklärt ihm unsere Lage und fragte, wo er gerade war. Wie sich herausstellte, war er ebenfalls in Geilo. Er hatte ebenfalls Fußprobleme und machte auch gerade ein paar Pausentage. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Wir machten es uns dann noch im Zelt gemütlich mit einer heißen Schokolade. Und einen Schluck Whisky gab’s auch noch. Wir sind heute nämlich genau einen Monat unterwegs! Wahnsinn, wie schnell ist eigentlich die Zeit vergangen! 474 Kilometer und 11.258 Höhenmeter liegen nun schon hinter uns!
Am nächsten Morgen war dann für mich Schonen angesagt. Flo schaute kurz in die Stadt zur Apotheke. Die waren dort allerdings nicht wirklich freundlich und hilfsbereit. Sie hatten nichts da, was wir brauchten und eine Bestellung würde über eine Woche dauern. In einem Reformhaus bekam er dann zumindest noch ein total überteuertes Döschen Arnika-Salbe. Das und ein Becher Quark wird dann wohl übers Wochenende als Therapie reichen müssen…
Da es immer wieder regnete, verbrachten wir den restlichen Tag im Zelt. Leider hat der Campingplatz keinen Aufenthaltsraum oder eine Küche. Aber in der Mitte des Platzes gab es einen Tisch mit Mikrowelle und einem Mini-Backofen. Das nutzten wir aus und machten uns Pizzabrötchen zum Abendessen. Das ganze Gemüse in unseren kleinen Trekkingschüsseln zu schneiden, war gar nicht so einfach. Teller oder ein Brett haben wir natürlich nicht dabei. Aber der Aufwand hatte sich gelohnt. Wenig später verströmte der kleine Backofen leckeren Pizzaduft!
Nach dem Essen besuchten wir Hubertus auf seinem Campingplatz. Bei Kaffee, Tee und Kvikk Lunsj tauschten wir uns über die letzten Tage aus.
Da wir jetzt länger Pause machen und Hubertus morgen weiter läuft, werden wir uns wohl so schnell nicht mehr über den Weg laufen. Wir wünschten uns gegenseitig noch viel Glück und gute Besserung und dann machten wir uns wieder auf den Weg zu unserem Campingplatz. Schon die wenigen hundert Meter machten sich schmerztechnisch bei mir bemerkbar. Ich hoffte inständig, dass sich das schnell bessern würde.
Die nächsten Tage verliefen relativ unspektakulär. Leider war das Wetter ziemlich kalt, windig und regnerisch, so dass wir nach 3 Tagen im Zelt so ganz ohne Bewegung ziemlich durchgefroren waren. Auch, wenn es unser Budget ärgerte, buchten wir deshalb für die nächsten 3 Nächte eine kleine Hütte auf dem Campingplatz, um uns wieder etwas aufzuwärmen.
Montag konnten wir dann endlich zum Arzt. Von Katharina und Manuel (ebenfalls NPL-Wanderer) wussten wir schon, dass die Nummer, über die in Norwegen Arzttermine vereinbart werden, mit deutschen Handys nicht funktioniert. So war es auch bei uns. Also beschlossen wir, einfach hin zu fahren. Unsere Zeltnachbarn boten uns an, uns schnell mit dem Auto hinzufahren. Dankbar nahmen wir das Angebot an. Dort angekommen, verabschiedeten wir uns, da die zwei heute weiter fahren werden. Sie wünschten uns alles Gute für meinen Fuß und gaben uns zum Abschied noch ihre Visitenkarte mit. Sie hätten eine Website, die wir uns gerne ansehen können und die uns vielleicht in unserer Situation helfen könne. Später haben wir den QR-Code darauf gescannt: Da haben uns wohl zwei richtig nette Zeugen Jehovas zum Arzt gefahren :)
Der Arztbesuch war dann leider kein Erfolg. Ich wurde gar nicht erst zu einem Arzt durchgelassen, sondern direkt an der Anmeldung mit der Anweisung drei mal täglich hochdosiert Ibuprofen Tabletten zu nehmen, Schmerzgel zu verwenden und mindestens zwei bis drei Wochen zu pausieren wieder weggeschickt. Der Apotheker verkaufte mir dann noch eine Sprunggelenksbandage, weil sie keine Achillessehnenbandage hatten. Außerdem nahm ich noch Fersengelkissen und die entsprechenden Schmerzmittel mit.
Abends telefonierte ich noch mit meinem Hausarzt zu Hause. Er empfahl mir spezielle Enzymtabletten, deren Beschaffung in Norwegen sich als nicht gerade einfach herausstellte.
Schon nach wenigen Pausentagen machte uns das Rumsitzen und die Langeweile ziemlich zu schaffen. Die Hauptattraktion jeden Tag war der Minibackofen. Im Zentrum haben wir dann noch ein total schönes Café entdeckt. Dort gab es eine riesen Auswahl an super leckeren selbstgebackenen Kuchen - sogar einige vegane. Da können wir uns jetzt die nächsten Tage durchprobieren! Hoffentlich können wir nach unserer Pause auch weiter wandern, sonst bleiben uns die ganzen Kalorien noch ;)
Nach 6 Tagen brauchten wir dann zumindest einen kleinen Ortswechsel. Weit konnten wir nicht weg, da wir noch auf eine Bestellung warteten. So wanderten wir nur ein paar hundert Meter weiter auf den zweiten Campingplatz hier im Ort.
Und natürlich kamen wir auch nicht drumrum, der Brusletto Messer-Werkstatt einen Besuch abzustatten. In Geilo werden diese berühmten Messer nämlich (immer noch per Hand) hergestellt, und das schon seit 1896. Jedes Messer ist durch die Handarbeit ein Unikat. Wir entschieden uns für das Nansen-Messer in einer limitierten Version. Davon wurden nur 500 hergestellt und jedes Messer hat eine eigene Nummer. Es basiert auf dem Messer, das Fridtjof Nansen 1888 nach seiner Grönland-Durchquerung (der ersten überhaupt über das Inlandeis) von den Eskimos bekam. Den restlichen Tag war Flo dann erst mal beschäftigt: natürlich musste dass Messer gleich mal ausgiebig getestet werden.
Außerdem nutzten wir die Zeit, um einige traditionelle norwegische Lebensmittel und Gerichte zu probieren. So können wir jetzt schon mal den typisch norwegischen Rømmegrøt (ein Sauerrahmbrei), süße Lefser (norwegische Fladen) mit Zimtbutter, gefüllte Lomper (Lefser aus Kartoffeln), Fiskekaker (Fischpflänzchen), Flatbrød (eine Art sehr dünnes Knäckebrot), Småmat (eine typische Festtagssuppe), Suksesskake (ein typisch norwegischer Kuchen) und den karamelligen Brunost-Käse auf unserer Liste abhaken. Und norwegische Kanelknuter (Zimtknoten), Skolebollar (Hefe-Puddingtaler) und Rosinboller (Rosinenbrötchen) durften natürlich auch nicht fehlen. Nur den Nationalkuchen Kvæfjordkake konnten wir noch nicht finden.
Nach 10 Tagen Pause wollte ich langsam anfangen, den Fuß wieder etwas zu belasten. Die Schmerzen waren zwar noch da aber schon leichter. Ein zweiter Arztbesuch endete nach fast 4 Stunden im Wartezimmer leider auch nur mit der Verschreibung weiterer Schmerztabletten. Von einem Freund von Flos Schwester, der Physiotherapeut ist, habe ich eine Übung per Video bekommen. Die half tatsächlich echt gut.
Da Radfahren auch mit entzündeter Achillessehne gut möglich sein soll, liehen wir uns in Geilo welche aus und machten einen Ausflug zur Prestholseter, einer Hütte im Hallingskarvet Nationalpark. Es tat so gut, endlich wieder im Fjell unterwegs zu sein und die bunten Flechten um uns herum zu haben! Im Anschluss drehten wir noch eine Runde um den Ustedalsfjorden.
Jetzt bleibt es abzuwarten, wie die Achillessehne den Ausflug fand. Wir haben für uns beschlossen, dass wir die vollen zwei Wochen abwarten werden und erst danach eine Entscheidung treffen, wie es für uns weitergehen wird. Solange wollen wir dem Fuß jetzt einfach Zeit geben. Also Daumen drücken! :)
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